OPAK präsentierte am 05.02.2012 in Zusammenarbeit mit den Untüchtigen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Golem:
OPAK – Salon für Größenwahn und Katerpoesie
Occupy – Reformismus oder Revolte?
Roger Behrens im Gespräch mit Mark Greif (Autor und Herausgeber von n+1, New York), der von den Occupy!-Protesten in den USA berichtet hat.
„Seid ihr bereit für einen Tahrir-Moment? Strömt am 17. September nach Lower Manhatten, baut Zelte, Küchen, friedliche Barrikaden und besetzt die Wall Street.“ Am 13. Juli 2011 rief das kanadische Magazin Adbusters zu Protesten auf, die ausgehend von New York schon bald das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit erreichen sollten. Nicht zuletzt dank prominenter UnterstützerInnen und dem exzessiven Einsatz neuer Medien wuchs die Occupy-Bewegung binnen kürzester Zeit zu einer breiten internationalen Protestkoalition. Parallelen zum Arabischen Frühling wurden entdeckt, die Ereignisse in eine Reihe gestellt mit den 68er-Unruhen.
Doch woher rührt das Potenzial der Occupy-Bewegung, weltweit Menschen zu mobilisieren? Wie kann ein Zusammenschluss funktionieren, der ohne offiziellen Forderungskatalog auskommt? Verbirgt sich hinter der Kritik an den Banken eine Position, die die Ungerechtigkeit des Kapitalismus auf das Verhalten wildgewordener Spekulanten zurückführt, die es reformistisch zu bändigen gelte? Oder eröffnet Occupy die Chance einer grundlegenden Gesellschaftskritik? Was bewegt sich derzeit in New York?
Der New Yorker Essayist und Literaturwissenschaftler Mark Greif begleitet die Occupy-Bewegung seit ihren Anfängen als Chronist und Dokumentar und kommentiert das Geschehen in der eigens herausgegebenen Publikation „Occupy Gazette!“. Außerdem ist Mark Greif Mitbegründer der renommierten New Yorker Kulturzeitschrift „n+1“, veröffentlicht regelmäßig in bedeutenden englischsprachigen Zeitschriften und gilt als einer der talentiertesten amerikanischen Essayisten seiner Generation.
Von Mark Greif im Suhrkamp-Verlag erschienen: „Occupy! Die ersten Wochen in New York“, „Ein Schritt weiter. Die n+1 Anthologie“, „Hipster. Eine transatlantische Diskussion“, „Bluescreen. Essays“
Auf Spiegel-Online war hierzu zu lesen:
Occupy-Unterstützer Mark Greif
„Das hätte ich schon mit zwölf wissen sollen“
Von Christoph Twickel
Ein Essay über Hipster machte Mark Greif bekannt: Bei seiner Lesung in Hamburg war der US-Autor nun froh, über etwas anderes sprechen zu können – sein Engagement in der Occupy-Bewegung. Begeistert erzählte er vom Zuccotti-Park – und bekam prompt ein Zelt in der Hamburger City angeboten.
Am Samstag hatte er im HBC in Berlin-Mitte mit Popintellektuellen wie Thomas Meinecke eine Diskussion mit dem Titel „Hipster – Strohmänner in Jeans?“ absolviert. Und auch am Montagabend in München wird der von ihm herausgegebene Suhrkamp-Band „Hipster. Eine transatlantische Diskussion“ im Zentrum stehen. Er sei wirklich erleichtert, heute nicht über den Hipster sprechen zu müssen, erklärte Mark Greif, als er am Sonntag auf einem Barhocker im „Golem“ am Hamburger Fischmarkt Platz nahm.
Nein, die bärtigen, Skateboard fahrenden, Hornbrillen- und Röhrenjeans tragenden Hungerhaken, die seit Ende der Neunziger die US-amerikanischen Innenstädte und Style-Magazine bevölkerten, sollten am neuen Lieblingsort der Hamburger Intelligenzia, laut Eigenwerbung „ein Ort des gepflegten Besäufnisses und des Gesprächs“, nicht Thema sein. Die dunkel-holzvertäfelte Salonkommunisten-Bar war gerammelt voll mit Menschen zwischen 25 und 45, mehrheitlich Teilnehmer des politischen Feuilletons, eher wenige Aktivisten.
Greif, den die „FAZ“ mit Roland Barthes vergleicht und den die „Süddeutsche Zeitung“ den „klügsten, originellsten und lustigsten amerikanischen Essayisten“ der Gegenwart nennt, widmete sich in Hamburg der Occupy -Wall -Street-Bewegung. Die New Yorker Kulturzeitschrift „n+1“, deren Mitherausgeber er ist, hatte die Besetzerinnen und Besetzer des Zuccotti Parks mit einer Flugschrift begleitet. Ausgewählte Texte aus der „OWS Gazette“ hat der Suhrkamp Verlag nun unter dem Titel „Occupy. Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation“ zu einem schmalen Bändchen gebündelt.
„Mein Leben lang hatte ich immer nur Misstrauen gegen alles Organisatorische gehegt“, schreibt Greif darin. „Also war es eine seltsame Erfahrung für mich, hier eine effiziente Versammlung zu sehen, die von junge Leuten demokratisch, offen und freundlich geleitet wurde. Wenn doch nur die Redaktionssitzungen von ’n+1′ so laufen würden!“
Schöne Bescherung: Ausgerechnet Greif, ein Virtuose im Diagnostizieren, Ent- und Recodieren mehrfachcodierter Gegenwartsphänomene, sah sich im Zuccotti-Park mit etwas konfrontiert, das sich der popkulturellen Einordnung sperrte, weil es für ihn selbst real wurde: „Plötzlich hörte ich mich Sätze sprechen wie: ‚Ich kann leider nicht dabei sein, weil die Bewegung mich braucht'“, bekannte der Harvard-, Oxford- und Yale-Alumnus dem seinerseits staunenden Publikum.
Das hatte offensichtlich etwas anderes erwartet: Entweder einen mit Haut und Haaren involvierten Aktivisten – oder einen Intellektuellen, der die Bewegung analysiert und womöglich unterhaltsam-komplex in einen Kontext der US-Widerstandsbewegungen – von Beatniks über Hipster und Black Panther bis zum Anti-Global-Movement von Seattle – zu bringen weiß. Stattdessen zeigte Greif selbstgeknipste, wackelige Digitalbilder aus den Besetzungswochen und ergab sich selbst dem Staunen: „Schaut mal, der da rechts trägt ein Sex-Pistols-T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, aber irgendwie sieht es aus wie gerade erst gekauft!“ Was das heißt? Er wusste es auch nicht.
Nicht dass hier das popkulturelle Referenzsystem komplett versagt: Zum Beispiel weiß Greif die Trommelgruppe, die das Occupy-Camp zur ausgiebigen körperlichen Grenzerfahrung nutzte und damit allen anderen mächtig auf die Nerven ging, treffsicher zu analysieren als Amalgam aus „California-style hippie dudes“ und Eastcoast-HipHop-Typen mit nacktem Oberkörper sowie Percussionisten in der afrokubanisch-neoyorquinischen Tradition. Aber solche Analysen, das vermittelt Greif an diesem Abend, sind eben auch ein bisschen Schall und Rauch angesichts des sozialen Prozesses. Ein Prozess, der es möglich macht, dass die nervigen Trommelbrüder, die Studenten, die Obdachlosen und die Intellektuellen über Wochen in produktiver Protestseligkeit co-existieren. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich in meinem Leben eine authentische soziale Bewegung miterlebe“, sagt Greif, Jahrgang 1975.
Was mit authentisch – oder „genuine“, wie er sagte – gemeint ist? Greif gehört zur Generation der Intellektuellen, für die das vielbeschworene Ende der Geschichte nach 1989 vielleicht nicht bare Münze ist – die aber auf jeden Fall Protest, Rebellion und Revolution eher als Habitus erfahren hat, als Attitüde für den popkulturellen Distinktionsgewinn. Für diese Generation ist es etwas Neues, dass eine Bewegung der Vereinzelung der Krisen- und Neoliberalismus-Opfer etwas so Reales entgegensetzen kann. Tatsächlich kommt die traurige soziale Realität in den USA dem Protestslogan „We are the 99 percent“ erschreckend nahe – und die Occupy-Bewegung ist das Kollektiv, das diese Realität in Widerstand ummünzt. Symbolisch vielleicht, aber greifbar.
Astra Taylor, Filmemacherin und Occupy-Aktivistin, erzählt in dem Suhrkamp-Bändchen, wie im Zuccotti-Park eine Gruppe von Besetzern ihre Schulden auf große Papierbögen schreibt: „‚$ 42.000‘, schrieb ich, und mir wurde flau im Magen. Die meiste Zeit verdränge ich die Zahl, weil ich Panik bekomme, wenn ich darüber nachdenke. Ich gab den Filzstift dem Mädchen Anfang 20 hinter mir. Neben ihren Namen schrieb sie: ‚$ 120.000‘.“ Eine Studie des Instituts Twentysomething.inc hat festgestellt, dass 85 Prozent der Collegeabsolventen in den USA nach ihrem Abschluss wieder bei ihren Eltern einziehen – eine Arbeitslosenrate von 54 Prozent bei Unter-25-Jährigen und die exorbitant hohen Schulden für Studienkredite zwingen sie dazu.
Im Verlauf der Besetzung hätten sich die Armutsverhältnisse immer mehr in der Geografie des Platzes abgebildete, berichtet Greif: Waren es am Anfang eher die Studenten, die ihre Zelte aufschlugen, kamen in den folgenden Wochen immer mehr Obdachlose, für die der Park zum geschützten Ort wurde. „Im Laufe der Zeit bildeten sich sozusagen zwei Lager: auf der einen Seite des Parks die Aktivisten, auf der anderen die Obdachlosen.“
Nicht zuletzt stehe die Occupy-Besetzung, so wie er sie miterlebt habe, für einen neuen, produktiven Anarchismus, den er nicht für möglich gehalten habe. „Ich gehörte zu den Leuten, die anfangs der Meinung waren, man müsse klare politische Forderungen formulieren“, so Greif. „Auf der anderen Seite standen die Anarchisten, die darauf bestanden: Wir lassen uns nicht auf dieses Spiel ein! Keine Forderungen! Und sie hatten absolut recht.“
Tatsächlich – das belegen auch die Texte in der Suhrkamp-Dokumentation – gab es sehr konkrete Forderungen, etwa nach Zurücknahme der Citizen-United-Entscheidung, der die unbegrenzte Finanzierung politischer Kampagnen durch privates Geld erlaubte. „Aber es war richtig, sich von Anfang an auf die Forderung nach echter Demokratie zu fokussieren – das machte es möglich, eine Bewegung aufzubauen aus all den Menschen, die nicht auf eine politische Richtung festgelegt waren, sondern sich dagegen empörten, dass der Staat die hochverschuldeten Banken raushaut, während sie selbst unter ihren Schulden zugrunde gingen.“ Ob er sich von der Besetzung habe radikalisieren lassen? „Ich bin mir nicht sicher“, resümiert Greif. „Ich hatte mehr das Gefühl, dass ich hier Sachen gelernt habe, die ich schon als Zwölfjähriger hätte wissen sollen.“
Die jugendlichen Aktivisten von Occupy Hamburg, die tags zuvor den Apple Flagship Store am Jungfernstieg besetzt hatten, nahmen das mit der Realness zu späterer Stunde wörtlich und luden Mark Greif ein, doch die Nacht im Occupy Camp am Gertrudenkirchhof zu verbringen: „Wir haben ein Zelt für dich, Mann! Du kannst mitkommen, wenn du willst!“ Ja, vielleicht sollte er das machen, antwortete der New Yorker höflich. Und hatte doch gleich zu Beginn der Veranstaltung bekannt, dass er als Schönwetter-Aktivist und „lauwarmer Liberaler“ zu den Zuccotti-Besetzern gestoßen war und von daher keine Kampfes-Authentizität in Anspruch nehmen dürfe.
OPAK präsentierte am 05.02.2012 in Zusammenarbeit mit den Untüchtigen und der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Golem:
OPAK – Salon für Größenwahn und Katerpoesie
Occupy – Reformismus oder Revolte?
Roger Behrens im Gespräch mit Mark Greif (Autor und Herausgeber von n+1, New York), der von den Occupy!-Protesten in den USA berichtet hat.
„Seid ihr bereit für einen Tahrir-Moment? Strömt am 17. September nach Lower Manhatten, baut Zelte, Küchen, friedliche Barrikaden und besetzt die Wall Street.“ Am 13. Juli 2011 rief das kanadische Magazin Adbusters zu Protesten auf, die ausgehend von New York schon bald das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit erreichen sollten. Nicht zuletzt dank prominenter UnterstützerInnen und dem exzessiven Einsatz neuer Medien wuchs die Occupy-Bewegung binnen kürzester Zeit zu einer breiten internationalen Protestkoalition. Parallelen zum Arabischen Frühling wurden entdeckt, die Ereignisse in eine Reihe gestellt mit den 68er-Unruhen.
Doch woher rührt das Potenzial der Occupy-Bewegung, weltweit Menschen zu mobilisieren? Wie kann ein Zusammenschluss funktionieren, der ohne offiziellen Forderungskatalog auskommt? Verbirgt sich hinter der Kritik an den Banken eine Position, die die Ungerechtigkeit des Kapitalismus auf das Verhalten wildgewordener Spekulanten zurückführt, die es reformistisch zu bändigen gelte? Oder eröffnet Occupy die Chance einer grundlegenden Gesellschaftskritik? Was bewegt sich derzeit in New York?
Der New Yorker Essayist und Literaturwissenschaftler Mark Greif begleitet die Occupy-Bewegung seit ihren Anfängen als Chronist und Dokumentar und kommentiert das Geschehen in der eigens herausgegebenen Publikation „Occupy Gazette!“. Außerdem ist Mark Greif Mitbegründer der renommierten New Yorker Kulturzeitschrift „n+1“, veröffentlicht regelmäßig in bedeutenden englischsprachigen Zeitschriften und gilt als einer der talentiertesten amerikanischen Essayisten seiner Generation.
Von Mark Greif im Suhrkamp-Verlag erschienen: „Occupy! Die ersten Wochen in New York“, „Ein Schritt weiter. Die n+1 Anthologie“, „Hipster. Eine transatlantische Diskussion“, „Bluescreen. Essays“
Auf Spiegel-Online war hierzu zu lesen:
Occupy-Unterstützer Mark Greif
„Das hätte ich schon mit zwölf wissen sollen“
Von Christoph Twickel
Ein Essay über Hipster machte Mark Greif bekannt: Bei seiner Lesung in Hamburg war der US-Autor nun froh, über etwas anderes sprechen zu können – sein Engagement in der Occupy-Bewegung. Begeistert erzählte er vom Zuccotti-Park – und bekam prompt ein Zelt in der Hamburger City angeboten.
Am Samstag hatte er im HBC in Berlin-Mitte mit Popintellektuellen wie Thomas Meinecke eine Diskussion mit dem Titel „Hipster – Strohmänner in Jeans?“ absolviert. Und auch am Montagabend in München wird der von ihm herausgegebene Suhrkamp-Band „Hipster. Eine transatlantische Diskussion“ im Zentrum stehen. Er sei wirklich erleichtert, heute nicht über den Hipster sprechen zu müssen, erklärte Mark Greif, als er am Sonntag auf einem Barhocker im „Golem“ am Hamburger Fischmarkt Platz nahm.
Nein, die bärtigen, Skateboard fahrenden, Hornbrillen- und Röhrenjeans tragenden Hungerhaken, die seit Ende der Neunziger die US-amerikanischen Innenstädte und Style-Magazine bevölkerten, sollten am neuen Lieblingsort der Hamburger Intelligenzia, laut Eigenwerbung „ein Ort des gepflegten Besäufnisses und des Gesprächs“, nicht Thema sein. Die dunkel-holzvertäfelte Salonkommunisten-Bar war gerammelt voll mit Menschen zwischen 25 und 45, mehrheitlich Teilnehmer des politischen Feuilletons, eher wenige Aktivisten.
Greif, den die „FAZ“ mit Roland Barthes vergleicht und den die „Süddeutsche Zeitung“ den „klügsten, originellsten und lustigsten amerikanischen Essayisten“ der Gegenwart nennt, widmete sich in Hamburg der Occupy -Wall -Street-Bewegung. Die New Yorker Kulturzeitschrift „n+1“, deren Mitherausgeber er ist, hatte die Besetzerinnen und Besetzer des Zuccotti Parks mit einer Flugschrift begleitet. Ausgewählte Texte aus der „OWS Gazette“ hat der Suhrkamp Verlag nun unter dem Titel „Occupy. Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation“ zu einem schmalen Bändchen gebündelt.
„Mein Leben lang hatte ich immer nur Misstrauen gegen alles Organisatorische gehegt“, schreibt Greif darin. „Also war es eine seltsame Erfahrung für mich, hier eine effiziente Versammlung zu sehen, die von junge Leuten demokratisch, offen und freundlich geleitet wurde. Wenn doch nur die Redaktionssitzungen von ’n+1′ so laufen würden!“
Schöne Bescherung: Ausgerechnet Greif, ein Virtuose im Diagnostizieren, Ent- und Recodieren mehrfachcodierter Gegenwartsphänomene, sah sich im Zuccotti-Park mit etwas konfrontiert, das sich der popkulturellen Einordnung sperrte, weil es für ihn selbst real wurde: „Plötzlich hörte ich mich Sätze sprechen wie: ‚Ich kann leider nicht dabei sein, weil die Bewegung mich braucht'“, bekannte der Harvard-, Oxford- und Yale-Alumnus dem seinerseits staunenden Publikum.
Das hatte offensichtlich etwas anderes erwartet: Entweder einen mit Haut und Haaren involvierten Aktivisten – oder einen Intellektuellen, der die Bewegung analysiert und womöglich unterhaltsam-komplex in einen Kontext der US-Widerstandsbewegungen – von Beatniks über Hipster und Black Panther bis zum Anti-Global-Movement von Seattle – zu bringen weiß. Stattdessen zeigte Greif selbstgeknipste, wackelige Digitalbilder aus den Besetzungswochen und ergab sich selbst dem Staunen: „Schaut mal, der da rechts trägt ein Sex-Pistols-T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, aber irgendwie sieht es aus wie gerade erst gekauft!“ Was das heißt? Er wusste es auch nicht.
Nicht dass hier das popkulturelle Referenzsystem komplett versagt: Zum Beispiel weiß Greif die Trommelgruppe, die das Occupy-Camp zur ausgiebigen körperlichen Grenzerfahrung nutzte und damit allen anderen mächtig auf die Nerven ging, treffsicher zu analysieren als Amalgam aus „California-style hippie dudes“ und Eastcoast-HipHop-Typen mit nacktem Oberkörper sowie Percussionisten in der afrokubanisch-neoyorquinischen Tradition. Aber solche Analysen, das vermittelt Greif an diesem Abend, sind eben auch ein bisschen Schall und Rauch angesichts des sozialen Prozesses. Ein Prozess, der es möglich macht, dass die nervigen Trommelbrüder, die Studenten, die Obdachlosen und die Intellektuellen über Wochen in produktiver Protestseligkeit co-existieren. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich in meinem Leben eine authentische soziale Bewegung miterlebe“, sagt Greif, Jahrgang 1975.
Was mit authentisch – oder „genuine“, wie er sagte – gemeint ist? Greif gehört zur Generation der Intellektuellen, für die das vielbeschworene Ende der Geschichte nach 1989 vielleicht nicht bare Münze ist – die aber auf jeden Fall Protest, Rebellion und Revolution eher als Habitus erfahren hat, als Attitüde für den popkulturellen Distinktionsgewinn. Für diese Generation ist es etwas Neues, dass eine Bewegung der Vereinzelung der Krisen- und Neoliberalismus-Opfer etwas so Reales entgegensetzen kann. Tatsächlich kommt die traurige soziale Realität in den USA dem Protestslogan „We are the 99 percent“ erschreckend nahe – und die Occupy-Bewegung ist das Kollektiv, das diese Realität in Widerstand ummünzt. Symbolisch vielleicht, aber greifbar.
Astra Taylor, Filmemacherin und Occupy-Aktivistin, erzählt in dem Suhrkamp-Bändchen, wie im Zuccotti-Park eine Gruppe von Besetzern ihre Schulden auf große Papierbögen schreibt: „‚$ 42.000‘, schrieb ich, und mir wurde flau im Magen. Die meiste Zeit verdränge ich die Zahl, weil ich Panik bekomme, wenn ich darüber nachdenke. Ich gab den Filzstift dem Mädchen Anfang 20 hinter mir. Neben ihren Namen schrieb sie: ‚$ 120.000‘.“ Eine Studie des Instituts Twentysomething.inc hat festgestellt, dass 85 Prozent der Collegeabsolventen in den USA nach ihrem Abschluss wieder bei ihren Eltern einziehen – eine Arbeitslosenrate von 54 Prozent bei Unter-25-Jährigen und die exorbitant hohen Schulden für Studienkredite zwingen sie dazu.
Im Verlauf der Besetzung hätten sich die Armutsverhältnisse immer mehr in der Geografie des Platzes abgebildete, berichtet Greif: Waren es am Anfang eher die Studenten, die ihre Zelte aufschlugen, kamen in den folgenden Wochen immer mehr Obdachlose, für die der Park zum geschützten Ort wurde. „Im Laufe der Zeit bildeten sich sozusagen zwei Lager: auf der einen Seite des Parks die Aktivisten, auf der anderen die Obdachlosen.“
Nicht zuletzt stehe die Occupy-Besetzung, so wie er sie miterlebt habe, für einen neuen, produktiven Anarchismus, den er nicht für möglich gehalten habe. „Ich gehörte zu den Leuten, die anfangs der Meinung waren, man müsse klare politische Forderungen formulieren“, so Greif. „Auf der anderen Seite standen die Anarchisten, die darauf bestanden: Wir lassen uns nicht auf dieses Spiel ein! Keine Forderungen! Und sie hatten absolut recht.“
Tatsächlich – das belegen auch die Texte in der Suhrkamp-Dokumentation – gab es sehr konkrete Forderungen, etwa nach Zurücknahme der Citizen-United-Entscheidung, der die unbegrenzte Finanzierung politischer Kampagnen durch privates Geld erlaubte. „Aber es war richtig, sich von Anfang an auf die Forderung nach echter Demokratie zu fokussieren – das machte es möglich, eine Bewegung aufzubauen aus all den Menschen, die nicht auf eine politische Richtung festgelegt waren, sondern sich dagegen empörten, dass der Staat die hochverschuldeten Banken raushaut, während sie selbst unter ihren Schulden zugrunde gingen.“ Ob er sich von der Besetzung habe radikalisieren lassen? „Ich bin mir nicht sicher“, resümiert Greif. „Ich hatte mehr das Gefühl, dass ich hier Sachen gelernt habe, die ich schon als Zwölfjähriger hätte wissen sollen.“
Die jugendlichen Aktivisten von Occupy Hamburg, die tags zuvor den Apple Flagship Store am Jungfernstieg besetzt hatten, nahmen das mit der Realness zu späterer Stunde wörtlich und luden Mark Greif ein, doch die Nacht im Occupy Camp am Gertrudenkirchhof zu verbringen: „Wir haben ein Zelt für dich, Mann! Du kannst mitkommen, wenn du willst!“ Ja, vielleicht sollte er das machen, antwortete der New Yorker höflich. Und hatte doch gleich zu Beginn der Veranstaltung bekannt, dass er als Schönwetter-Aktivist und „lauwarmer Liberaler“ zu den Zuccotti-Besetzern gestoßen war und von daher keine Kampfes-Authentizität in Anspruch nehmen dürfe.